Mein Hundeleben – Schnauzen voller Liebe – Leseprobe

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser, in meinem Buch ‚Mein Hundeleben – Schnauzen voller Liebe‘ lade ich Euch zu einer ganz persönlichen, humorvollen und lehrreichen Reise ein.

Das Buch handelt von ungewollten Autobahnsperrungen, undichten Dächern, Eifeldörfern, die uns nicht haben wollten, einem lebensmüden Dackel, einer Käferplage, von Geburten und Todesfällen, von Trennungen und Glücksmomenten, von einem Sturm namens Kyrill, von gestohlenen Hähnchenschenkeln, von Unfruchtbarkeit durch Rouladenspieße, von leeren Osternestern und weinenden Kindern, von Hausverkäufern, die nicht ausziehen und sich stattdessen in die Luft sprengen wollten, von Giftanschlägen, von der Vorbereitung, am Rio Pecos reiten zu wollen, von einem riesigen Ziegenbock, der die Hausherrin mitsamt Futtereimer im Stall an die Wand genagelt hat, von Mülleimern, die Hunde verfolgten, von einem Ganter, der mich nicht mehr auf mein eigenes Grundstück ließ, von Krankheiten, die mit allen Mitteln besiegt wurden, von Hundetrainern, die Angst vor Welpen hatten, und vielen schönen, tragischen und nachdenklichen Geschichten. Das Buch ist eine persönliche, humorvolle und lehrreiche Reise durch mein facettenreiches Leben, geprägt von der Liebe zur Musik, zum Film und zu Tieren. Die Geschichte, die ich in meinem Buch erzähle, beginnt mit meinem Stoffdackel und führt über mein Musikstudium in Wien bis hin zu meiner Fernsehkarriere und endet letztendlich bei meiner Bestimmung: den Hunden. Die etwa 400 Seiten und 130 Kapitel meines Buches enthalten sowohl humorvolle Anekdoten als auch bewegende Geschichten aus meinem Leben mit über 40 Tieren in der malerischen Eifel und Begegnungen mit vielen anderen Tieren während meiner Dreharbeiten in ganz Europa. Besonders hervorheben möchte ich meine Erfahrungen, die ich in einem Jahr unter 45 Pariahunden in einer Forschungsstation gesammelt habe. Darüber hinaus beinhaltet das Buch meine emotionalsten Momente im Zusammenleben mit den Tieren.

Es begann mit einer Lehre im Autohaus meines Vaters, gefolgt von einem Musikstudium in Wien. Es folgten Tourneen durch Schweden, meiner damaligen Wahlheimat, England und Österreich und fand ihre Fortsetzung im Fernsehen und mündete schließlich in einer leidenschaftlichen Hingabe zur Tierwelt. Im Jahr 1992 entschied ich mich für einen Karrierewechsel und ging zum Fernsehen. Zuerst arbeitete ich als Musikredakteur, später als Autor und Realisator für verschiedene Formate der ARD. Ein Höhepunkt meiner Fernsehkarriere war die Auszeichnung meiner Redaktion der Sendung „Geld oder Liebe“ mit dem renommierten Grimme-Preis. „Tiere suchen ein Zuhause“ war meine letzte größere Sendung. 2001 geschah ein weiterer bedeutender Wendepunkt in meiner Karriere. Zusammen mit meiner damaligen Frau Petra gründete ich die Plattform Dogtale Movies, ein Unternehmen, das sich auf Tierfilmproduktionen spezialisierte. Ich lebte mit 40 Tieren in der malerischen Eifel, drehte Filme mit den bekanntesten Hunde- und Pferdetrainern und erlebte sowohl lustige als auch tragische Geschichten. Es ist ein Leben für und mit den Tieren. In diesem Buch teile ich die Geschichten meiner Herzenstiere, wie sie zu mir fanden und wie sie mir Freude, aber auch Kummer bereiteten. 

Das Buch ist universell gestaltet und spricht alle Menschen an, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Identität oder ihrem Hintergrund. Die verwendete Sprache ist allgemein und inklusiv, um eine breite Leserschaft zu erreichen und niemanden auszuschließen. 

Ich hoffe, ihr genießt die Lektüre meiner Geschichten genauso sehr, wie ich es genossen habe, sie zu erleben und zu teilen.

Euer Ralf Alef

Alles auf Anfang

Heute ist der 8.5.23. Berry lebt schon zwölf Jahre nicht mehr. Seit er 1999 zu mir kam, ist viel passiert: Zwei gescheiterte Ehen, unzählige Tiere, sechs Umzüge, Corona, eine überstandene Flut, und dennoch besitze ich immer noch eine ungebrochene Lebensenergie, die mich antreibt.

In 62 Kilometern erreiche ich den Michaelshof, einen denkmalgeschützten, historischen Bauernhof von 1650, der mein neuer Wohnort wird. Ab heute werde ich dort mit vier Menschen, zwei Hunden und drei Kühlschränken leben. Zusätzlich haben wir eine zuverlässige Putzhilfe, die uns dabei unterstützt, den Hof in einem gepflegten Zustand zu halten. In der Nähe ist die Linie 18 nach Köln – ideale Voraussetzungen. Im Rückspiegel sehe ich den blauen Anhänger, der bis unter die Dachkante beladen ist. Auf meinem Beifahrersitz türmen sich Jacken und Taschen. Und ganz oben, geschützt und gesichert wie die Mona Lisa, liegen die Bilder meiner Hunde Berry und Cooper. Um 16:30 Uhr werde ich erwartet. Meinen Schlüssel habe ich vor drei Tagen bekommen. Die Uhr zeigt mir 8:58 Uhr an. Ich bin sieben Stunden zu früh. Ich bin eigentlich immer zu früh. Selbst wenn ich versuche, zu spät zu kommen, bin ich zu früh. In der Nacht habe ich vor Nervosität kein Auge zugemacht und wusste nicht, wie ich die Zeit bis 16:30 Uhr überbrücken sollte. Also bin ich losgefahren und habe mich in den Berufsverkehr gestürzt, um den Rhein bei Bonn zu überqueren und mit all den mürrischen Menschen auf dem Weg zur Arbeit in mein nächstes Abenteuer zu fahren. 10:07 Uhr. Ich bin da. Kein Auto steht vor der Tür. Das war mir klar, denn die anderen Mitbewohner sind berufstätig und nicht ohne Grund haben wir 16:30 Uhr vereinbart.

Unsicher, ob ich durch das große alte Tor hineinfahren soll, mache ich noch eine Runde durch das Dorf, halte beim Bäcker an und kaufe überteuerte Brötchen. „Ohne Remoulade bitte“, sage ich. Ich mag am liebsten ganz schlicht belegte Brötchen. Ohne Butter, ohne Salat und erst recht ohne Remoulade. Wieder im Auto beiße ich herzhaft in das üppig belegte Brötchen. Die Remoulade tropft mir auf die Jeans und ich überfahre eine rote Ampel.

Die beiden Hunde meiner neuen Mitbewohner, Bella und Homer, kommen aus den Tiefen des Hofs nach draußen gestürmt, bevor ich die Chance habe aufzuschließen. Ich freue mich darauf, endlich wieder mit Hunden zusammenzuleben. Das Tor ächzt und knirscht, als ich es entriegele und mit beiden Händen nach hinten schiebe. Es ist ein altes, massives, zweiflügeliges Tor, das mir eindringlich klar macht, dass es ihm nicht gefällt, die meiste Zeit geschlossen zu sein. Ich fahre mit dem Anhänger auf den Hof und bin mir sicher, dass ich niemals in der Lage sein werde, diesen jemals rückwärts wieder zu verlassen.

Es ist 10:13 Uhr. Ich setze mich in den kleinen Unterstand, den die Bewohner scherzhaft Bushaltestelle nennen. Dort nehme ich das zweite Brötchen aus der Tüte und achte darauf, dass die Remoulade nicht wieder auf meine Hose tropft.

 

Homer und Bella lassen sich in meiner Nähe nieder und beäugen mich gespannt aus sicherer Entfernung. Die Szenerie und die verbleibenden Stunden laden geradezu dazu ein, meinen Laptop aufzuklappen und weiter an meiner Geschichte zu arbeiten. Oder noch besser: Ich habe mit Homer und Bella zwei Zuhörer gefunden und kann ihnen meine Geschichte vorlesen. Meine Geschichte handelt von Hunden, von Pferden, von Schicksalsschlägen, von Tierliebe und gescheiterten Lebensträumen. Ich mache mir einen Kaffee, klappe mein MacBook auf und positioniere mich vor dem hochkarätigen Fachpublikum.

Mein Wunschzettel

Ich sehnte mich jedoch nicht nach irgendeinem Hund, sondern nach dem perfekten Hund, einem lebenslangen Begleiter. Es musste ein Dackel sein. Warum genau diese Rasse, kann ich nicht sagen, da keiner meiner Helden einen Dackel besaß. Möglicherweise war mein geliebter Stoffdackel Waldi der Auslöser für diesen Wunsch. Jedes Jahr zum Weihnachtsfest verewigte ich den Dackel auf meinem Wunschzettel, doch das Christkind erhörte mich nicht. Als ich später vermutete, dass das Christkind nicht existierte, flehte ich meine Eltern an, mir einen Dackel zu schenken. Leider vergebens. Meine Eltern lehnten Tiere nicht ab, doch ihre traumatischen Erfahrungen mit Tieren während des Krieges wollten sie mir ersparen.  Wir konnten nie über das Thema sprechen; es war ein Tabu. Einige Freunde unserer Familie hatten jedoch Hunde, und mein Onkel züchtete sogar Pudel. Bei jedem neuen Wurf verbrachte ich den Großteil meines Tages bei ihm. Mich mit Welpen zu umgeben, sie zu kuscheln, zu lieben, zu streicheln, sich von ihnen abschlecken zu lassen und ihre Ohren zu kraulen war für mich das Größte. Ich bekam nie einen Dackel. Weder vom Christkind noch von meinen Eltern. 

Zu jener Zeit gab es noch die allgemeine Wehrpflicht, die ich in der Theodor-Körner-Kaserne in Lüneburg bei der Panzer-Instandsetzung absolvierte. Nach sechs Wochen wurde ich ehrenhaft entlassen, da ich wegen einer Schulteroperation weder militärisch grüßen noch mein Bett selbst machen konnte. Mein schauspielerisches Talent bewahrte mich vor der Absurdität der Bundeswehr. Stattdessen schöpfte ich meinen Kameraden Suppe in die Blechnäpfe, wenn sie frierend und nass aus den Schlammlöchern krochen. Nach der Untersuchung durch den Stabsarzt konnte ich meinen Arm in einer Schlinge tragen und freudig der Entlassung entgegensehen.

Nach meiner Rückkehr von der Front war es vorgesehen, dass ich wieder im Betrieb meines Vaters arbeiten sollte. Widerwillig tat ich das, trieb aber gleichzeitig meine musikalische Karriere voran. Mit der Band spielten wir auf der Köln-Düsseldorfer Schifffahrtslinie, spielten alte Schlager zum Tanztee, und dort verdiente ich mein erstes selbst erarbeitetes Geld. Mit der Zeit konnte ich mir immer weniger vorstellen ein Autohaus zu leiten, da meine Leidenschaft für die Musik stärker wurde. Wirtschaftlich gesehen war es natürlich die falsche Entscheidung, aber ich bin eben so, wie ich bin. Ich hatte ein gutes technisches Verständnis, konnte Kalkulationen für Reparaturen erstellen und die Mechaniker einteilen. Was mir allerdings fehlte, war die Leidenschaft für das Geschäft. Deshalb hörte ich nach insgesamt sechs Jahren im Autohaus auf und widmete mich ganz der Musik. Dies führte zu einem endgültigen Bruch zwischen mir und meinem Vater.

Aus der Schülerband wurde eine Galaband. Als „Saturday Night Fever“ den Discorausch einläutete, wurden wir zur Hausband einer Diskothek für die nächsten Jahre. Anschließend ergaben  sich für mich weitere Engagements, von denen ich endlich als Musiker leben konnte. Meine Eltern waren nur ein einziges Mal bei einem Auftritt, und ihr Kommentar war lediglich, dass es zu laut gewesen sei. Mein Vater hat es anscheinend nie verwunden, dass ich mich für den Weg des Musikers entschieden hatte. Doch trotz allem blieb der Wunsch nach einem Dackel in meinem Herzen, und ich hoffte, dass ich eines Tages meinen treuen vierbeinigen Freund finden würde.

Meine Sehnsucht entsprach einer alten niederländischen Weisheit: Wenn du einen Freund nötig hast, kauf dir einen Hund.

Sandra

Wir waren auf Tournee und gastierten in Krefeld. Nach einem Konzert besorgten wir uns am nächsten Morgen in einer örtlichen Metzgerei belegte Brötchen für die Weiterreise zum nächsten Auftrittsort. Hier begegnete ich ihr: Sandra. Sie war das genaue Gegenteil eines Dackels – eine charmante vierjährige Neufundländerdame, groß wie ein Kalb und ihres Zeichens die Chefin im Metzgerladen. Ich war augenblicklich komplett verzaubert. Wenn es so etwas gab wie Liebe auf den ersten Blick, dann erlebte ich sie in diesem Augenblick.

Im Gespräch mit dem Metzgereibesitzer kam heraus, dass er gezwungen war, den Hund abzugeben, angeblich aufgrund von Anforderungen des Gesundheitsamtes. Ein Cocktail aus Dopamin, Adrenalin, Serotonin und Oxytocin durchflutete meinen Körper, und ich fühlte mich, als würde ich auf einer endlosen Welle der Glückseligkeit surfen. Ich konnte nicht widerstehen. „Darf ich Sandra mitnehmen?“ 100 DM für Sandra und 1,40 DM für das Brötchen – ein perfekter Handel. Ich war überwältigt vor Glück. Erst später bemerkte ich, dass ich das geschmierte Brötchen liegen gelassen hatte.

Ein Hund lehrt uns bedingungslose Liebe. Wenn wir diese Erfahrung in unserem Leben machen können, kann es so schlecht nicht sein.

Eltern

Zu jener Zeit lebte ich wieder bei meinen Eltern in Hermülheim, in dem Haus mit dem großen Garten und dem typischen Jägerzaun. Ich hatte die Situation vollkommen unterschätzt. Als ich mit Sandra vor der Tür stand, traf ich unerwartet auf Widerstand. Meine Eltern machten mir deutlich, dass der Hund nicht ins Haus durfte – es gab weder Raum für Sandra noch für Diskussionen. Glücklicherweise war es Sommer, denn ich entschied mich, an diesem schicksalhaften ersten Tag mit Sandra in meinem Opel Rekord am nahegelegenen Otto-Maigler-See in Gleuel zu übernachten.

Am zweiten Tag versteckte ich Sandra heimlich in der Garage.  Am dritten Tag gaben meine Eltern auf. Sandra schlief ab diesem Zeitpunkt neben ihrem Bett. Meine Mutter hatte schlichtweg Angst vor einem erneuten Verlust eines geliebten Tieres gehabt. Sandra wurde in Rekordzeit ein vollwertiges Mitglied unserer Familie. Mein Vater ging Sonntagmorgens mit ihr um den Block spazieren, um anschließend in die nahegelegene Burgschänke zum Frühschoppen einzukehren. Dies wurde zu einem festen Ritual für die kommenden Jahre. Meine Mutter hingegen war für das Futter und die Schönheitspflege zuständig. Sandra verputzte große Mengen und ihr langes Fell verlangte nach sehr viel Pflege. Endlich hatte meine Mutter jemanden zum Kämmen, Füttern und Versorgen gefunden. 

Sandra und mich verband eine tiefe Freundschaft. Es war selten nötig, sie an der Leine zu führen, denn sie blieb stets an meiner Seite, wenn wir gemeinsam auf Entdeckungstour gingen. Wir genossen die Ausflüge in die Wälder, in die nahegelegene Eifel und nach Holland ans Meer. Sandra war eine ausgesprochene Wasserratte. Es war unkompliziert sie mitzunehmen und sie zog mit ihrem einnehmenden Wesen die Aufmerksamkeit aller Menschen auf sich, als wäre sie direkt aus der Welt von Oz entsprungen.

Oft saß ich mit ihr auf der Hundedecke im Flur und weinte manche Träne in ihr Fell. Sie war mein Anker im kühlen Elternhaus, das einerseits ablehnend, andererseits erdrückend und klammernd war. Ich fand bei ihr tatsächlich die Liebe und Nähe, nach der ich mich immer gesehnt hatte.

Wie ein schwedisches Sprichwort sagt: „Den som har en hund har alltid sällskap.“ (Wer einen Hund hat, hat immer Gesellschaft.)“

Rotphasen

Wenn Sandra nicht in die Richtung wollte, in die ich wollte, setzte sie sich hin. Für andere war es amüsant, aber für mich eher peinlich, da ich hilflos am anderen Ende der Leine stand.

An manchen Kreuzungen war es unvorhersehbar, welchen Weg wir einschlagen würden. Sandra übernahm die Führung und bestimmte unsere Route. Manchmal warteten wir zwei bis drei Ampelphasen lang, bevor sie sich entschied, ob wir links, geradeaus oder rechts gingen. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass sie solche Situationen provoziert hat: Je mehr Zuschauer auf der anderen Seite standen, desto mehr Rotphasen erlebte ich. Anfangs hatte ich noch versucht, Sandra zum Weitergehen zu bewegen – mit Fisch, Pansen, Lob, Wut, Ziehen oder vergeblichen Aktionen wie meinem berühmten Bauchheber, den ich mir aus asiatischen Karatefilmen abgeschaut hatte. 51,3 kg, die wie ein nasser Sack auf der Straße klebten, waren eine deutliche Ansage. Ich vermied den Blickkontakt mit dem schmunzelnden Publikum, das zu oft hilfreiche Ratschläge parat hatte. Nach kurzer Zeit erkannte man uns auf unseren Spazierwegen und der ein oder andere Fußgänger blieb erwartungsvoll stehen, um zu schauen, wer denn heute das Ampelduell gewinnen würde.

„Hunde sprechen, aber nur mit denen, die zuhören können.“

Heribert

Es gab auf dieser Welt nur einen Menschen, den Sandra nicht leiden konnte: Heribert Golombek. Heribert hatte eine Beeinträchtigung – er stotterte. Ich kannte ihn seit vielen Jahren und hatte in meiner jugendlichen Unbedachtheit oft über ihn gelacht, allerdings nie in seiner Anwesenheit. Wenn er zu Besuch kam, waren wir gezwungen, Sandra zu isolieren. Sobald sie seine Stimme hörte, wurde sie extrem aufgeregt und wütend. Sie konnte sich für die gesamte Dauer seines Besuchs nicht beruhigen. So kannten wir sie nicht. Es passierte häufig, dass jemand im Dunkeln über Sandra stolperte, weil sie tiefschwarz war und mit dem Boden verschmolz. Daraus machte sie sich nichts und ging einfach zur Seite. In Biergärten gab es nicht selten verschütteten Gerstensaft, wenn Sandra sich unbemerkt in den Weg gelegt hatte. Ich musste diverse Male getrocknete Getränke aus ihrem Fell bürsten. Sie vergab allen Menschen – nur Heribert nicht.

Es gab keine Vorgeschichte zwischen Sandra und ihm. Sandra erkannte Heribert schon am Klang seiner Autotür. Sofort begann sie das infernalische Gebrüll eines unkontrollierbaren Höllenhundes. Da gab es nichts zu retten – verbrannte Erde, für immer. Wir haben Heribert nie erzählt, dass er der Einzige war, bei dem Sandra derart ausrastete.

Pansen

Sandra zeigte ein völlig anderes Verhalten, wenn Willi, der Cousin meiner Mutter, kam. Er und seine Frau Gerta wohnten in einem Wohnpark, etwa zwei Kilometer entfernt. Willi war von Beruf Schlachter und die beiden kamen häufig zu Besuch. Ich konnte nie ganz nachvollziehen, wie man diesen Beruf ausüben konnte, aber das ist eine andere Geschichte. Einmal im Monat brachte Willi Pansen und andere, furchtbar riechende Tierreste mit. An diesen Tagen erfüllte ein unerträglicher Gestank das gesamte Haus, und unsere Küche wurde quasi zur Außenstelle des Schlachthofs. Willi und meine Mutter portionierten die Pansenstücke, kochten sie und verstauten sie in Frischhaltebeuteln in einer extra dafür angeschafften Tiefkühltruhe. An diesen Tagen war Sandra besonders ausgelassen. Willi war ihr Held. Und nicht nur an den Tagen, an denen Pansen verarbeitet und eingefroren wurde – nein, er war immer ihr Held. Wenn Willi zu uns kam, trug er einen Geruch an sich, den Sandra über alles liebte, den ich jedoch als den Geruch des Todes bezeichnete. Wenn er Sandra berührte, sah es aus, als würde er ein Stück Holz streicheln. Das lag wahrscheinlich an seinem Beruf. Ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, den ganzen Tag Tiere zu töten und dann nach Hause zu kommen, um den eigenen Hund liebevoll zu streicheln.

Mülleimer

Vor der Metzgerei Zens stand ein großer, freistehender Mülleimer aus Metall, an den meine Mutter Sandra anband. Sandra war kein Hund, der weglief – da waren wir uns sicher. Leider hatte der Mülleimer Rollen, die an diesem Tag nicht arretiert waren. Als Sandra sich hinlegte und dabei die Leine straff zog, rollte der Mülleimer auf sie zu und fiel um. Das versetzte Sandra derart in Panik, dass sie losrannte, als sei der Leibhaftige persönlich hinter ihr her. Verzweifelt galoppierte sie drauf los, bis sie schließlich von Passanten in einer Sackgasse gestoppt werden konnte. Meine Mutter hatte sie da längst aus den Augen verloren. Der Mülleimer, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte, muss für die arme Sandra traumatisch gewesen sein. In dem damals noch kleinen Hermülheim wussten alle, wo sie hingehörte, und man brachte Sandra zu uns zurück. Nach diesem Vorfall verließ sie tagelang nicht mehr das Haus. Selbst in der größten Eile würde meine Mutter ab jetzt kein Risiko mehr eingehen. 

Renate

1982 begann ich eine Beziehung mit Renate, die im selben Ort wohnte und die Tochter eines Ärztepaares war. Während unserer zweijährigen Beziehung war ich überaus glücklich. Sogar meine Eltern mochten sie, obwohl sie der Meinung waren, dass unsere sozialen Hintergründe nicht übereinstimmten. Dennoch fanden sie Renate durchweg sympathisch. Mit ihr hatte ich den längsten Urlaub meines Lebens – sechs Wochen in Spanien und Portugal. Ein Urlaub, an den ich heute noch gerne zurückdenke. Wir verbrachten jeden Tag zusammen. Durch Renate erkannte ich, dass das Leben mehr bedeutet als nur Arbeit und Gehorsam.  Sie war eine selbstbewusste junge Frau mit einer eigenen Meinung. Sie mochte meine Musik und begleitete mich zu vielen Auftritten. Endlich erhielt ich ein positives Feedback für das, was ich tat und für die Person, die ich war. Die besondere Freundschaft zwischen Renates Airedale-Terrier Jack und unserer Sandra war eine Freude zu beobachten. Jack, mit seinem drahtigen Fell und dem liebevollen Blick, war der perfekte Spielgefährte für Sandra. Es fühlte sich so an, als hätten wir – die Menschen und die Hunde – eine perfekte Harmonie gefunden. Wir waren zwei Paare, verbunden durch eine unerklärliche Bindung, die weit über die bloße Begleitung hinausging.

Die malerische Landschaft der Ville, mit ihren glitzernden Seen und endlosen Wäldern, war unser Spielplatz. Die Natur bot uns zahlreiche Möglichkeiten für Tagesausflüge, von ausgedehnten Wanderungen durch den dichten Wald bis hin zu ausgelassenen Schwimmtouren in den ruhigen Seen. Manchmal, wenn das Wetter besonders mild war, übernachteten wir direkt am Seeufer. Zu jener Zeit waren diese Orte noch nicht so stark kommerzialisiert wie heute. Es gab keine Zäune oder abgegrenzte Badebereiche, nur die freie Natur und das sanfte Rauschen des Wassers.

Die beiden Sommer, die wir zusammen verbrachten, waren erfüllt von unvergesslichen Abenteuern. Jedes freie Wochenende nutzten wir für Ausflüge an die holländische Küste. Mit unserem Zelt und den Hunden im Schlepptau machten wir uns auf den Weg, um die salzige Seeluft und die endlose Weite des Meeres zu genießen.

Wir verbrachten Tage am Strand, spielten mit den Hunden, ließen sie im Wasser toben und suchten nach Muscheln im weichen Sand. Die Nächte verbrachten wir zeltend unter dem Sternenhimmel, das sanfte Rauschen des Meeres als unser Schlaflied. Während dieser Zeit entdeckten wir nicht nur die Schönheit der Natur, sondern auch die Tiefe unserer Freundschaft und die unermessliche Freude, die unsere vierbeinigen Freunde in unser Leben brachten.

Es war ein unvergesslicher Anblick, wenn Sandra, mit ihrem langen, dichten Fell, aus den Fluten der Nordsee kam. Jeder ihrer Schritte hinterließ tiefe Fußspuren im weichen Sand, und ihre Augen funkelten vor purer Freude und Aufregung. Der salzige Wind fegte durch ihr Fell und brachte es zum Flattern, als ob sie eine Art pelziger Meeresgöttin wäre, die aus dem Wasser auftauchte. Doch der wirklich unvergessliche Moment war, wenn Sandra sich dazu entschied, sich im Sand zu wälzen. Mit einem fröhlichen Schnauben und einem schnellen Blick zu uns, als ob sie unsere Zustimmung suchte, ließ sie sich auf den Rücken fallen und begann, sich hin und her zu rollen. Innerhalb von Sekunden war sie von oben bis unten paniert, ihr einst schwarzes Fell jetzt mit einer Schicht aus goldenem Sand bedeckt. Ihr Aussehen erinnerte uns an ein gigantisches, pelziges Schnitzel, und das war jedes Mal ein Anblick, der uns zum Lachen brachte. Aber mit dem Sand kamen natürlich auch die unvermeidlichen Aufräumarbeiten. Der Sand fand auf mysteriöse Weise den Weg in jeden Winkel unseres Autos, knirschte unter den Füßen und bedeckte das Armaturenbrett. Trotz unserer Bemühungen, Sandra vor dem Einsteigen gründlich abzuklopfen, schien der Sand eine Art magnetische Anziehungskraft zu haben und verfolgte uns überallhin. Im Zelt war es nicht anders. Sandra hinterlies eine Spur von Sand über unseren Schlafsäcke und der ganzen Ausrüstung. Manchmal fanden wir Sandkörner in unseren Schuhen oder in den Taschen unserer Jacken, als stille Erinnerungen an Sandras Freude am Strand. Aber trotz der zusätzlichen Arbeit, die Sandras Sandbäder mit sich brachten, konnten wir nicht anders, als sie zu lieben. Ihr Glück und ihre Freude waren ansteckend, und die Sandspuren, die sie hinterließ, waren nicht nur ein Zeichen für die Unordnung, sondern auch für die wunderbaren, unbeschwerten Tage, die wir zusammen am Strand verbracht haben.

Karneval 1984 lernte Renate ihren Traumprinzen kennen, mit dem sie bis heute zusammen ist und Kinder hat. Gut für sie und schlecht für mich.

„Hunde haben mich nie gebissen. Nur Menschen.“

Der erste schlimme Verlust

Auch heute noch wird mir schwer ums Herz, wenn ich an die einzigartige, süße Sandra denke. Wir durften insgesamt sieben wundervolle Jahre miteinander verbringen. Als ich sie damals vom Metzger holte, war sie gerade vier Jahre alt. Drei Jahre später erkrankte sie an Gebärmutterkrebs. Nach einer Totaloperation erholte sie sich jedoch schnell und erfreute sich bald wieder bester Gesundheit. Die ganze Familie litt und bangte mit ihr. Leider wurde Sandra nur elf Jahre alt. Wir mussten die schmerzvolle Entscheidung treffen, sie einschläfern zu lassen. Ihre Hüftgelenke waren beidseitig inoperabel, ein Prozess, der sich über viele Jahre hinweg abgezeichnet hatte. Mein Vater und ich begleiteten Sandra zum Tierarzt. Als wir nach Hause kamen, stand meine Mutter in der Einfahrt, und ihr Blick fiel auf den leeren Rücksitz. In dem Moment begriff sie, dass Sandra nie mehr zurückkommen würde. 

Ich war fest davon überzeugt, dass ich nie wieder einen Hund haben würde. Diesen Schmerz wollte ich nicht noch einmal erleben. Plötzlich konnte ich meine Eltern verstehen. 

Harry

Leider zeigte sich, dass Selbstvertrauen und Stärke alleine nicht immer ausreichen, um allen Herausforderungen des Lebens gerecht zu werden. Als Harry, ein beeindruckender Deutscher Schäferhund, in mein Leben trat, sollte ich eine Lektion lernen, die ich nie vergessen würde.

Die Geschichte begann, ähnlich wie bei Sandra, mit einem Zufall. Während einer Motorradtour mit einigen Freunden machte ich Halt in Welcherath, nahe des Nürburgrings, um in einer Gaststätte einzukehren. Harry war an einer Laufleine befestigt und konnte sich frei auf dem ganzen Hof bewegen. Ein beeindruckender Hund, der an der Leine keinerlei Aggressionen zeigte und selbst bei Anwesenheit anderer Hunde vollkommen gelassen blieb. Irgendwie ergab sich im Gespräch mit dem Wirt, dass dieser Harry lieber in den Händen eines anderen Besitzers wüsste. Seine Partnerin war kürzlich verstorben, und er musste nun alles alleine bewältigen. Harry wurde dabei vernachlässigt. Na, könnt Ihr Euch vorstellen, wie diese Geschichte weitergeht? Harry und ich unternahmen am nächsten Tag einen Spaziergang. Es war ein Moment, der mir zeigte, wie sehr ich die Gesellschaft eines treuen Begleiters vermisst hatte. Wir wanderten zuerst um seinen Heimatort und am nächsten Tag um meinen. Harry war zu diesem Zeitpunkt 3 Jahre alt. Er wurde mein zweiter Hund. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf Sandra, mein Wunderwesen, zurückkommen. Sie begleitete mich vom ersten Tag an ohne Leine, unabhängig davon, wie belebt die Umgebung war. Ich genoss es, sie während des Weihnachtstrubels auf den Kölner Einkaufsstraßen frei laufen zu lassen. Ab und zu fiel sie etwas zurück, und für die anderen Passanten sah es wahrscheinlich so aus, als ob sie alleine unterwegs wäre. Sie folgte mir immer. Ich sah mich als modernen Franz von Assisi, der eine besondere Beziehung zu Tieren hatte. Ich musste später auf schmerzhafte Weise feststellen, dass dies an Sandra lag und nicht an mir. Sie war Franziska von Assisi. Jetzt beim zweiten Hund, sollte mir nach drei Tagen schon klar werden, dass ich ein blutiger Anfänger in der Hundeerziehung war. Bettina, meine damalige Lebensgefährtin, und ich waren mit Harry auf einem Flohmarkt in Euskirchen, wo wir einen kleinen Verkaufsstand hatten. Und was tat ich? Ich ließ ihn frei laufen. Einen großen Schäferhund, über den ich nicht viel wusste. Einen Hund, den ich für mindestens vier Wochen nicht hätte ableinen dürfen. Ich kam mir sehr cool vor mit diesem imposanten Hund an meiner Seite. Der Dackel, den Harry sich schnappte, wurde nicht schwer verletzt und konnte mit einigen Stichen genäht werden. Das war meine Schuld. Hätte er gewollt, hätte der Dackel nicht überlebt. Der Besitzer des Dackels und ich hätten nichts tun können, um die beiden zu trennen. Wir waren beide hilflos und entsetzt: ein Schäferhund und ein Dackel, der vor Todesangst schrie. Harry ließ von ihm ab. Ich hatte ihn in diese Situation gebracht. Einen Kettenhund, der plötzlich auf einem überfüllten Flohmarkt zurechtkommen musste. Einen Hund, der nichts kannte außer seinem Garten und den Waldspaziergängen. Ich erhielt eine Lektion, die ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen sollte. Am folgenden Tag brachte Bettina Harry zurück zu seinem alten Besitzer. Zurück an die lange Leine. Ich konnte es nicht über mich bringen, mitzufahren. Erkennt sich hier jemand wieder? Es ist nicht einfach zuzugeben, dass man seine Fähigkeiten überschätzt hat und dafür Verantwortung zu übernehmen. Bettina hatte Angst vor Harry bekommen und wollte ihn nicht mehr bei uns haben. Was sollte ich tun? Diese Erinnerung und mein schlechtes Gewissen schmerzen mich bis heute, obwohl diese Geschichte bereits 1999 passiert ist und Harry schon lange nicht mehr lebt. Damals habe ich mir geschworen, dass ich niemals wieder ein Tier zurückgeben würde. Niemals.

Berry

Im selben Jahr feierte die Sendung „Tiere suchen ein Zuhause“ ein großes Jubiläum. Ich wurde angefragt, ob ich Zeit hätte und helfen könnte. Ulla Kock am Brink war die Moderatorin. Im Rahmen der Sendung besuchte ich ein Tierheim in Köln. Und es geschah, wie es kommen musste. Ein scheinbar verzweifelter Mischling lief bellend in seinem Zwinger auf und ab. Er beruhigte sich, als ich mich dem Zwinger näherte. Da war er wieder, der Franz-von-Assisi-Moment. Ich empfand diesen Augenblick als magisch und blieb bei ihm, bis das Tierheim schloss. Als ich ging, begann er sofort wieder zu bellen und lief hysterisch umher. Je weiter ich mich von seinem Zwinger entfernte, desto kläglicher wurde sein Gebell. Berry war erst einen Tag zuvor gebracht worden. Man hatte ihn festgebunden an einer Leitplanke auf der Autobahn gefunden. Trotz meines anspruchsvollen Berufs, den Ängsten und den zahlreichen Reisen, die kaum Raum für die Bedürfnisse eines Hundes ließen – Zeit, Zuwendung und angemessene Beschäftigung – fühlte ich mich am nächsten Tag erneut zum Tierheim hingezogen. Trotz aller Widersprüche wollte ich Berry mitnehmen. Ich fühlte mich wie ein Retter, war Hals über Kopf verliebt und wollte eine gute Tat vollbringen. Ich erhoffte mir ein bisschen Dankbarkeit von ihm und dadurch eine ewige Freundschaft. Am nächsten Tag holte ich ihn ab. Ich hatte sämtliche Ausrüstung besorgt, die man als neuer Hundebesitzer benötigt. Ein Hundebett, eine Flexi-Leine, Knochen, Trockenfutter, Handtücher, Bürsten, eine Autobox und vieles mehr. Wir fuhren direkt zur nächsten Wiese. Ich befestigte Berry an der neuen Flexi-Leine. Es war die stärkste, die sie im Laden hatten. Berry startete aus dem Auto heraus und nutzte die volle Länge. Ich höre den Verkäufer noch sagen, dass die Leine für Hunde bis 70 kg ausgelegt ist. Die stärkste Leine riss sofort. Wir waren beide überrascht, der knapp 25 kg schwere Berry und ich. Gott sei Dank blieb er stehen und ich konnte ihn mit einer Kurzleine anleinen. Einen Termin bei einer Hundetrainerin hatte ich schon vereinbart, denn ich wollte, anders als bei Harry, diesmal alles richtig machen. Berrys Geburtstag legte ich auf den 1. April fest. Der Tierarzt, dem ich Berry vorstellte, schätzte ihn auf etwa 8 Monate. Die Trainerin verfolgte einen eher harten Ansatz in der Hundeerziehung. Zum Beispiel benutzte sie eine 10-Meter-Leine und ließ den Hund mit voller Wucht in das Ende laufen, wobei der Besitzer in die entgegengesetzte Richtung rennen sollte. Eine echte Gefahr, dem Hund das Genick zu brechen. Ich hatte Glück, dass dies nicht passierte. In Situationen, in denen es keinen Sinn machte, wurde der Hund, bevor es überhaupt einen Grund gab, eingeschüchtert. Bei dieser Trainerin waren wir nicht in guten Händen, denn das konnte nicht der richtige Weg sein. Es macht durchaus Sinn auf seinen Bauch zu hören bei der Wahl einer Hundeschule, einem Verein, und selbst bei Tierärzten. Wenn Ihr ein merkwürdiges Gefühl habt, dass es nicht für Euer Tier passt: Finger weg. Was hatte ich da eigentlich für einen Hund? Alle schätzten ihn als Mischling ein und sie sollten sich irren. Nur zwei Profis erkannten auf Anhieb, wer Berry wirklich war: Der Wolfsforscher Günther Bloch und der Rassespezialist Gerd Leder. Hätte ich die beiden schon zu diesem Zeitpunkt gekannt, hätte ich viel besser auf Berry eingehen können.

Die närrische Hitparade

Eine meiner letzten Sendungen als Redakteur beim WDR fand in Münster statt: die „Närrische Hitparade“. Ich hatte die Sendereihe bis dato schon einige Jahre begleitet. Bettina wollte mit Berry eine Runde im nahegelegenen Park spazieren gehen. „Bitte lass ihn nicht von der Leine in der fremden Umgebung“, höre ich mich noch sagen. Um 19.15 Uhr, eine Stunde vor der Liveschalte, rief Bettina an, um mir zu sagen, dass Berry verschwunden war. „Wie, verschwunden?“, fragte ich. Ich befand mich in einer gewaltigen Zwickmühle. Als Redakteur konnte ich das Set nicht eine Stunde vor einer Live-Sendung verlassen, aber die Sorge um Berry überwog und ich riskierte es, mir großen Ärger einzufangen. Ich lief los. Der Park war nur wenige Minuten entfernt. Wir sahen Berry in der Ferne, wie er die Wege kreuzte und durch den Park trabte. Für Ärger auf Bettina war in diesem Moment noch kein Platz, obwohl er in mir brodelte.

Es war 19.49 Uhr. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Berry war nicht mehr zu sehen und die Uhr tickte. Mir wurde klar: Nicht nur mein Hund, sondern auch mein Job würden in 26 Minuten Geschichte sein. Bettina kam um die Ecke gerannt und schrie aufgeregt: „Komm schnell, er ist am See!“. Die Schwäne, die Berry anfauchten, verunsicherten ihn. Wie angewurzelt stand er dort und ließ sich anstandslos einfangen. 20.04 Uhr. Im Adrenalinrausch zurück zur Sendung.

Drei Minuten vor Beginn war ich im Studio, hörte noch das Ende der Tagesschau, und dass nun zur „Närrischen Hitparade“ nach Münster umgeschaltet würde. Alles lief gut und ich konnte mich nach der Sendung endlich dem Ärger widmen, den ich auf Bettina hatte.

Geisterfahrer

Berry war ein Ausbrecherkönig; er wartete auf seine Chance und flüchtete dann zielsicher. Ich hatte mittlerweile dazu gelernt: Anleinen, dann erst die Tür öffnen und niemals die Heckklappe des Autos öffnen, ohne ihn vorher zu sichern. Er suchte seine Chance aus dem Nichts heraus. Ich habe unzählige Ausbrüche nicht verhindern können. Sein Lieblingshobby war es, Autos zu jagen. Er tat dies mit erstaunlichem Erfolg. So auch an diesem eiskalten Februartag. 

Es herrschten Minustemperaturen, es schneite und es war Freitag-Feierabendverkehr. Ich rannte im T-Shirt hinter ihm her in Richtung A4, Abfahrt Poll, auf die Gegenfahrbahn in Richtung Frankfurt. Nach 200 m gab ich auf und sah ich ihn am fernen Horizont die Abfahrt hochgaloppieren.

Ich hatte eine nette Hundebesitzerin gefunden, die Berry während meiner Arbeitszeit betreute. Nach Feierabend, es dämmerte schon an dem besagten Freitagnachmittag, wollte ich ihn abholen. Iris und ich plauderten kurz im Garten, die Türen waren sicher verschlossen. Aber da war dieses Loch im Zaun. Das Loch, durch das bislang kein Hund versucht hatte sich durchzuzwängen. Dieses Loch und dieser Moment der Unachtsamkeit reichten für Berry aus, um den Weg in die weite Welt und die vermeintliche Freiheit zu suchen. Auf der nahegelegenen Autobahn gab es genug Autos, die man jagen konnte. Ihr könnt euch Berrys Gesichtsausdruck nicht vorstellen, als er an mir vorbeistürmte. Wie oft hatte ich diesen Ausdruck schon sehen müssen, wenn er die Ohren nach hinten legte und Vollgas gab. Er war nicht mehr ansprechbar. Was hatte ich in diesen Situationen schon geschrien, getobt, geheult, gefleht und ihm den Teufel an den Hals gewünscht! Nicht so an diesem Freitag, da hatte ich die nackte Angst um Berry. Diesmal konnte es nicht gut gehen. A4, Gegenfahrbahn, Schneeregen und Feierabendverkehr. Geistesgegenwärtig rief ich die Polizei an und innerhalb weniger Minuten wurde die Autobahn voll gesperrt. In Gedanken sah ich einen Comic vor meinem geistigen Auge ablaufen. Fliegende Reifen und Lenkräder und ein toter Hund. Blinde Panik und diese verdammte Machtlosigkeit – ich, mitten im Winter im T-Shirt, und Berry auf der Autobahn. Als ich endlich die Auffahrt erreichte, kam ein Polizeiwagen mit Blaulicht angerast und sicherte die Fahrbahn. Ich sah nur Chaos. Autos standen quer auf der Straße und deren Fahrer waren ausgestiegen und fluchten über die Verzögerung. Auf der Gegenfahrbahn zwängte sich ein anderer Einsatzwagen an der Blechlawine vorbei und stoppte auf meiner Höhe, um die andere Seite der Autobahn zu sichern. Kein Berry weit und breit. Mir kam es vor, als wäre schon eine Ewigkeit vergangen. Ich konnte die Funkmeldungen aus dem Polizeiwagen hören: „Hund gesichtet. Rennt auf der Gegenfahrbahn. Wir versuchen ihn zu stoppen.“ Was würde die Polizei jetzt tun? Wie wollten sie einen panischen Hund stoppen? Ihn erschießen, um Schlimmeres zu verhindern? Auf einmal kam Berry zwischen den stehenden Autos, gerade mal 5m entfernt, an mir vorbei gestürmt. Ich rief seinen Namen mehrfach, schrie so laut, dass sich meine Stimme überschlug. Aber Berry verschwand genauso schnell, wie er gekommen war, in die andere Richtung. Ich konnte seine Hilflosigkeit förmlich spüren, als er versuchte, orientierungslos zu fliehen – nur weg aus diesem Chaos. Er war nicht mehr der verspielte und neugierige Hund, den ich kannte. In diesem Moment war er von Instinkten und Panik getrieben, die ihn dazu drängten, vor allem davonzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Autos hupten, und die Menschen auf den Straßen wurden zunehmend ungeduldig. Plötzlich gab Berry auf. Er stand wie paralysiert mit hängenden Ohren auf dem Mittelstreifen, überreizt von der lauten Blechlawine, den Scheinwerfern, dem Hupen und den Menschen, die versuchten ihn einzufangen. Berry war am Ende mit seinem Hundelatein.

Die netteste Polizistin der Welt konnte ihn mühelos ohne Handschellen abführen. Sie meinte, ich sei genug gestraft. Es gab kein Nachspiel für mich, keine Verwarnung, nichts. Sie verstand, dass Berrys Aktion ein fürchterliches Versehen war. Das würde mir nie mehr passieren. Dachte ich.

Schafe

Jeder Kölner kennt die Poller Wiesen. Auf der berühmten „Schäl Sick“ gelegen, ist hier einer der besten Abenteuerplätze für die Hundefreunde Kölns. Zu jeder Tages- und Nachtzeit findet sich hier immer ein Hund mit seinem menschlichem Begleiter, der am nahegelegenen Rhein seine Runden dreht, sei es morgens um 5 Uhr kurz vor der Schicht, oder abends um 23 Uhr als Gute-Nacht-Runde.

Die Hundewiese war für Berry und mich ein tägliches Ritual. Schnell lernten wir andere nette Hunde und deren Besitzer kennen. Paula, die Boxerhündin mit Rudi, Herkules, den Münsterländer mit Sabine, die Berner-Sennen-Hündin Tammy mit Julia und Werner. Es war ein harmonisches Miteinander, das wir zu jeder Tageszeit genossen. Egal ob bei strömendem Regen oder bei beeindruckenden Sonnenuntergängen am Rheinufer, bei einem kleinen Picknick mit selbstgebackenen Leckereien oder einem Smalltalk unter Gleichgesinnten. Schnell wuchsen Menschen und Hunde hier zusammen. Für mich waren es Stunden des Loslassens und Entspannens, die ich nicht mehr missen wollte. Berry war hier in seinem Element und genoss das Spielen und Toben mit den neu gewonnen Freunden.

Eines Tages sah er am Horizont drei Schafe und trotz aller Versuche ihn zu stoppen, rannte er los, als sei wieder mal der Teufel hinter ihm her. Dazu muss ich sagen, dass wir hier auf den Wiesen bisher komplett verschont geblieben waren von Berrys Jagdeskapaden. Es kam ein ähnliches Gefühl auf wie vor ein paar Wochen, als Berry die Autobahn zum Jagdterrain erkoren hatte. Diesmal ohne Angst um Berry, aber mit Angst um die Schafe.  Ich hatte die Tiere zunächst nicht bemerkt. Erst durch Berrys zielstrebiges Losstürmen schaute ich in ihre Richtung und sah sie mit Berry auf den Fersen galoppierend um die Ecke verschwinden. Als ich mich näherte, bot sich mir ein Bild wie in einer der besten Szenen aus „Ein Schweinchen namens Babe“. Mein Berry, der gehorsamste und liebste Hütehund von allen, saß vor einer Herde von mehr als 100 Schafen, die im Kreis formiert standen. Weit und breit war kein Schäfer zu sehen. Die Passanten erzählten mir, dass Berry die Herde ein paar Mal umrundet hatte und die Schafe sofort gecheckt hatten, dass hier ein Profi am Werk war. Alle Schafsaugen waren auf Berry gerichtet. Er saß lässig einige Meter entfernt, den Blick in Richtung Herde, sodass kein einziges Schaf sich traute einen Fluchtversuch zu unternehmen. Auf einmal kam der Schäfer mit einem kleinen Suzuki-Jeep und zwei Hunden angefahren. „Guter Hund“, sagte er, einen Grashalm kauend. Die Schafe hatten im Morgengrauen das nahegelegene Nachtlager unerlaubt verlassen. Seine Hunde nickten Berry kollegial zu und legten sich in die Morgensonne. Sie hatten Feierabend für heute.

Selbstreflexion

Warum habe ich überhaupt Tiere? Was bringt mich dazu, einen großen Teil meiner Freizeit freiwillig zu opfern und die Verantwortung für ein Tier zu übernehmen? Ich könnte meine freie Zeit genießen und ohne Verpflichtungen das Haus verlassen. Spontan in Urlaub fliegen und nächtelang wegbleiben, ohne Rücksicht auf jemanden nehmen zu müssen. Was lässt mich darauf verzichten? Möchte ich eine emotionale Leere füllen? Will ich einen Versorgerinstinkt ausleben, den ich nicht bei meinem eigenen Kind ausleben konnte? Was ist es also? Ich muss es vielleicht aus einer anderen Perspektive betrachten. Ich bin offenbar nicht alleine mit dem Wunsch nach einem tierischen Mitbewohner, denn in Deutschland leben viele Millionen Menschen mit Hunden oder Katzen. Ich habe einen intakten Bekannten- und Freundeskreis. Ich gehe einem wunderbaren Beruf nach, mache Musik, und lerne dadurch immer wieder neue und spannende Leute kennen. Smalltalk beherrsche ich auch. Also, was fehlt mir? Bedingungslosigkeit? Jemand, der immer da ist, wenn ich ihn brauche? Jemand, der abhängig von mir ist? Jemanden, der mich bedingungslos liebt? „Komm zu Papa“, „Wo ist denn der liebe Junge?“ Was steckt hinter diesen harmlos dahingesagten Phrasen? Gestern hörte ich einen Passanten zu einem Hundebesitzer vor einer Metzgerei sagen: „Na, wartet der Hund auf die Mama?“ Der Hundebesitzer antwortete: „Nein, auf die Fleischwurst von der Mama“. Er stand dort mit einem großen Weimaraner, dem es vielleicht peinlich gewesen wäre, wenn er den Inhalt dieser Konversation verstanden hätte. Ein Weimaraner ist laut Rassebeschreibung ein ausgesprochen intelligenter und souveräner Jagdhund mit ausgeprägter Wildschärfe. Das bedeutet, dass er geschossenes Wild auf Kommando aufspürt und im normalen Arbeitsalltag, den die Rasse früher einmal hatte, nicht darauf wartet, dass ‚Mama‘ die Fleischwurst bringt. Was für eine Degradierung seiner Fähigkeiten. Aber, bin ich eigentlich anders als der Hundebesitzer. Degradiere ich meine Hunde nicht genauso?

Ich bin mit Lassie und Timmy aufgewachsen, habe nach dem Duschen samstags Daktari geschaut und schenkelklopfend mit Clarence zusammen geschielt. Flipper, Sandy und Bud waren meine Freunde. Wenn Flipper die Verbrecher stellte oder Haie vertrieb, jubelte ich vor Freude. Tarzan, mein großes Vorbild, lebte zusammen mit den Tieren des Waldes. Sie waren seine Freunde. Winnetou und Old Shatterhand liebten ihre Pferde und gingen mit ihnen durch dick und dünn. Iltschi und Hatatitla, so hießen die beiden, waren sogar Brüder. Zwei Blutsbrüder und zwei Pferdebrüder, gemeinsam im Kampf gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt. Flicka und Fury, Tom und Jerry, Bugs Bunny, Black Beauty und Ferien auf Saltkrokan mit Bootsmann zählten zu meinen Klassikern. In Malin, die 19-jährige Tochter von der Kräheninsel, und in Paula, die Tochter von Marsh Tracy aus Daktari, war ich unsterblich verliebt. „Ein Platz für Tiere“ mit Bernhard Grzimek war mein wöchentliches Highlight. Ich segelte mit Jacques Cousteau und seinem Schiff Calypso hinaus aufs hohe Meer und tauchte mit ihm ein in die tiefen Welten des Ozeans. Gustav Knuth begeisterte mich in der Serie „All meine Tiere“ als Tierarzt, und insgeheim wünschte ich mir, er wäre mein Vater. Ich habe Jane Goodall und Dian Fossey zum ersten Mal in der Sendung „Im Reich der wilden Tiere“ gesehen, und beide haben mich zutiefst fasziniert. Den Spielfilm über das Leben von Dian Fossey, „Gorillas im Nebel“, kann ich mir nicht mehr ansehen wegen der Grausamkeiten, die den Gorillas zugefügt wurden. Dian Fossey wurde leider eines Tages, wahrscheinlich ermordet von Wilderern, in ihrem Camp aufgefunden. Sie widmete sich dem Schutz der Berggorillas. Die Lassie-Spielfilme sind mir zu hart. Es ist kaum für mich zu ertragen, wenn Lassie verkauft werden muss, weil es der Familie schlecht geht und sie von der wunderbaren 10-jährigen Elisabeth Taylor und Roddy McDowell getrennt wird. 

Es gibt noch viele Beispiele mehr und langsam beginne ich zu verstehen, warum ich Tiere so liebe. Wenn beim Angriff auf die Normandie in „Der Soldat James Ryan“ Tausende von Soldaten im blutgetränkten Sand sterben, löst das kaum Emotionen in mir aus, denn für mich ist es nur ein Film. Bitte versteht mich nicht falsch, ich verabscheue Krieg. Aber weitaus tragischer finde ich den Tod des Muttertiers in „Der Bär“ von Jean-Jacques Annaud im Vergleich dazu, wenn ein U-Boot in einem Kriegsfilm versenkt wird.

Ein zentraler Aspekt für mich ist die Verletzlichkeit von Tieren, die dem Menschen bedingungslos ausgeliefert sind. Sie können verkauft, erschossen oder geangelt und wieder ins Wasser geworfen werden. Sie können als Versuchstiere in Laboren dienen, nur damit wir neue Kosmetika haben, oder sie werden mit Sprengstoff am Körper unter Wasser trainiert, um auf Knopfdruck Schiffe zu versenken. Oder man gewinnt mit ihnen Pokale und hohe Siegprämien, ohne die Tiere zu fragen, ob sie das überhaupt wollen. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Dies macht mich zutiefst traurig und wütend. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich weniger über das Wohl von Tieren oder Menschen nachgedacht habe. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich das verändert. In einer Zeit, in der das Wort ‚Gutmensch‘ als Schimpfwort gilt, Hasskommentare im Internet aufgrund der Anonymität unfassbare Ausmaße erreichen und der Egoismus der Menschen zunimmt, finde ich es schockierend, dass wir das Naheliegende – Respekt und Empathie – zunehmend aus den Augen verlieren. Aber warum liebe ich Tiere denn nun? Ich schätze die körperliche Nähe und die Verbundenheit. Ich liebe es, für sie zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen. Ich liebe es, wenn sie sich in meiner Nähe wohl fühlen. Ich liebe es, sie zu streicheln, zu knuddeln, mit ihnen durch das Unterholz zu laufen oder, wie mit meinem Hund Cooper, in den Dünen zu liegen. Ich liebe es, ihren Geruch einzufangen. Ich möchte für sie da sein und nehme es gerne in Kauf, dadurch Einschränkungen zu haben. Zum Zeitpunkt, an dem ich dieses Kapitel schreibe, ist Cooper seit vier Wochen tot. Mein Leben ist leerer. Mein Herz schmerzt und es ist kaum auszuhalten. Nach Hause zu kommen und nicht von ihm erwartet zu werden tut unendlich weh. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich ein geliebtes Tier oder einen Menschen verliere.  

Mein Leben ist schlagartig leerer. Mit Cooper, Berry, Sandra und all den anderen lieben Hunden, war mein Leben voller. Sehr viel voller. Wertvoller. Das ist es, warum ich gerne mit Tieren zusammen bin.