Berry war ein Ausbrecherkönig; er wartete auf seine Chance und flüchtete dann zielsicher. Ich hatte mittlerweile dazu gelernt: Anleinen, dann erst die Tür öffnen und niemals die Heckklappe des Autos öffnen, ohne ihn vorher zu sichern. Er suchte seine Chance aus dem Nichts heraus. Ich habe unzählige Ausbrüche nicht verhindern können. Sein Lieblingshobby war es, Autos zu jagen. Er tat dies mit erstaunlichem Erfolg. So auch an diesem eiskalten Februartag.
Es herrschten Minustemperaturen, es schneite und es war Freitag-Feierabendverkehr. Ich rannte im T-Shirt hinter ihm her in Richtung A4, Abfahrt Poll, auf die Gegenfahrbahn in Richtung Frankfurt. Nach 200 m gab ich auf und sah ich ihn am fernen Horizont die Abfahrt hochgaloppieren.
Ich hatte eine nette Hundebesitzerin gefunden, die Berry während meiner Arbeitszeit betreute. Nach Feierabend, es dämmerte schon an dem besagten Freitagnachmittag, wollte ich ihn abholen. Iris und ich plauderten kurz im Garten, die Türen waren sicher verschlossen. Aber da war dieses Loch im Zaun. Das Loch, durch das bislang kein Hund versucht hatte sich durchzuzwängen. Dieses Loch und dieser Moment der Unachtsamkeit reichten für Berry aus, um den Weg in die weite Welt und die vermeintliche Freiheit zu suchen. Auf der nahegelegenen Autobahn gab es genug Autos, die man jagen konnte. Ihr könnt euch Berrys Gesichtsausdruck nicht vorstellen, als er an mir vorbeistürmte. Wie oft hatte ich diesen Ausdruck schon sehen müssen, wenn er die Ohren nach hinten legte und Vollgas gab. Er war nicht mehr ansprechbar. Was hatte ich in diesen Situationen schon geschrien, getobt, geheult, gefleht und ihm den Teufel an den Hals gewünscht! Nicht so an diesem Freitag, da hatte ich die nackte Angst um Berry. Diesmal konnte es nicht gut gehen. A4, Gegenfahrbahn, Schneeregen und Feierabendverkehr. Geistesgegenwärtig rief ich die Polizei an und innerhalb weniger Minuten wurde die Autobahn voll gesperrt. In Gedanken sah ich einen Comic vor meinem geistigen Auge ablaufen. Fliegende Reifen und Lenkräder und ein toter Hund. Blinde Panik und diese verdammte Machtlosigkeit – ich, mitten im Winter im T-Shirt, und Berry auf der Autobahn. Als ich endlich die Auffahrt erreichte, kam ein Polizeiwagen mit Blaulicht angerast und sicherte die Fahrbahn. Ich sah nur Chaos. Autos standen quer auf der Straße und deren Fahrer waren ausgestiegen und fluchten über die Verzögerung. Auf der Gegenfahrbahn zwängte sich ein anderer Einsatzwagen an der Blechlawine vorbei und stoppte auf meiner Höhe, um die andere Seite der Autobahn zu sichern. Kein Berry weit und breit. Mir kam es vor, als wäre schon eine Ewigkeit vergangen. Ich konnte die Funkmeldungen aus dem Polizeiwagen hören: „Hund gesichtet. Rennt auf der Gegenfahrbahn. Wir versuchen ihn zu stoppen.“ Was würde die Polizei jetzt tun? Wie wollten sie einen panischen Hund stoppen? Ihn erschießen, um Schlimmeres zu verhindern? Auf einmal kam Berry zwischen den stehenden Autos, gerade mal 5m entfernt, an mir vorbei gestürmt. Ich rief seinen Namen mehrfach, schrie so laut, dass sich meine Stimme überschlug. Aber Berry verschwand genauso schnell, wie er gekommen war, in die andere Richtung. Ich konnte seine Hilflosigkeit förmlich spüren, als er versuchte, orientierungslos zu fliehen – nur weg aus diesem Chaos. Er war nicht mehr der verspielte und neugierige Hund, den ich kannte. In diesem Moment war er von Instinkten und Panik getrieben, die ihn dazu drängten, vor allem davonzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Autos hupten, und die Menschen auf den Straßen wurden zunehmend ungeduldig. Plötzlich gab Berry auf. Er stand wie paralysiert mit hängenden Ohren auf dem Mittelstreifen, überreizt von der lauten Blechlawine, den Scheinwerfern, dem Hupen und den Menschen, die versuchten ihn einzufangen. Berry war am Ende mit seinem Hundelatein.
Die netteste Polizistin der Welt konnte ihn mühelos ohne Handschellen abführen. Sie meinte, ich sei genug gestraft. Es gab kein Nachspiel für mich, keine Verwarnung, nichts. Sie verstand, dass Berrys Aktion ein fürchterliches Versehen war. Das würde mir nie mehr passieren. Dachte ich.